interpretation Guenter Grass - Katz und Maus, ►Ebooki DEUTSCH
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Alexander Ritter
Günter Grass: Katz und Maus
Reclam
Günter Grass:
Katz und Maus
Von Alexander Ritter
In den »drei Prosawerken«
Die Blechtrommel
(1959),
Katz und Maus
(1961) und
Hundejahre
(1963), zusammengefasst als
Danziger Trilogie
, ist der Autor Günter Grass
– nach eigener Aussage – »bemüht, die Wirklichkeit einer ganzen Epoche, mit ihren
Widersprüchen und Absurditäten, in ihrer kleinbürgerlichen Enge und mit ihrem
überdimensionalen Verbrechen, in literarischer Form darzustellen«,
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um »Klarheit über
historische, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge zu gewinnen«.
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Die
erzählerische Gestaltung nationalsozialistischer Herrschaft 1933–45 als Teil deutscher
Geschichte folgt mehreren Schreibanlässen: der Biographie des jungen Günter Grass –
»nicht als Täter, doch im Lager der Täter zur Auschwitz-Generation«
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gehörend –, den
Debatten um Vergangenheitsbewältigung und Identität in der nachkriegszeitlichen
westdeutschen Öffentlichkeit sowie Adornos umstrittenem Satz vom ›Schreiben nach
Auschwitz‹. Sie leiten Grass an, den Faschismus und sein fatales Heldentum aus dem
Geiste kleinbürgerlicher Mentalität an Beispielen mediokrer Einzelpersonen
beschreibend zu entlarven, ohne ideologiekritisch zu reflektieren und zu moralisieren.
Die
Danziger Trilogie
markiert neben den Romanen von Heinrich Böll, Uwe Johnson
und anderen Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre einen ersten
Höhepunkt deutscher Literatur. Die neue Autorengeneration, von in- und ausländischer
Literatur vielfältig beeinflusst, reagiert im ›Auszug aus dem Elfenbeinturm‹ (1949;
Schnurre) mit verfremdenden Erzählmitteln nonkonformistisch auf die jüngste deutsche
Geschichte und ihre Rezeption während einer Zeit der ökonomischen Gesundung
(Wirtschaftswunder) und politischen Konsolidierung (zwei deutsche Staaten). Ihre
© 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Alexander Ritter
Günter Grass: Katz und Maus
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Intention richtet sich auf die kritische Funktion von Literatur, um mit ihr deutsche
Geschichte öffentlich zu machen (Habermas), die vom Faschismus und seinem latenten
Fortdauern geprägt ist, von Auschwitz und der Schuldfrage, von Restauration und
Ost/West-Konfrontation, von Ereignissen wie dem Arbeiteraufstand 1953 in der DDR,
von Atombomben-Diskussion (1958), Berlin-Krise (1959) und dem Mauerbau (1961).
Mit den drei Texten der
Danziger Trilogie
bewegt sich Grass poetologisch in der
Tradition des pikarischen Romans und deutschen Bildungsromans, der historischen
Novelle und regionalistischer Weltbeschreibung. Weil er aber auch in
Katz und Maus
die
desillusionierte Welt ironisch distanziert erzählt, weder historisiert noch psychologisiert,
sondern über die »Frontalansicht des Kleinbürgertums« und »aus dessen Perspektive«
als »Hinteransicht der Tribüne«,
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desavouiert der Autor gewohnte Heldenläuterung
durch regressive Figurenentwürfe und den völkisch-nationalistischen Missbrauch von
Region, Provinz und Heimat durch eine ›antiregionale Poetik‹ des regionalen Erzählens,
das als »›pars-pro-toto‹-Literatur« nicht provinzielles Gegenbild, sondern die Welt
selbst ist.
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Wie auch bei den anderen zwei Romanen werden in
Katz und Maus
Schreibintention
und Erzählkonzeption von aufklärerischer »Einsicht, Skepsis, Zweifel«
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und einem anti-
hegelschen Geschichts- und Staatsverständnis bestimmt. Die biographische Erfahrung
stellt dafür die stoffliche Grundlage bereit: Danzig als Heimatstadt; kleinbürgerliche
Herkunft aus der Ehe einer kaschubischen Katholikin mit einem deutschstämmigen
Protestanten; NS-Erziehungsideal in Familie, Schule, Jungvolk, HJ, als Luftwaffenhelfer
und Soldat; »Bewunderung für militärische Helden«; politische »Gläubigkeit«;
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spätes
Begreifen nach Kriegsende. Seine so stimulierte literarische Beschäftigung mit dem
Faschismus folgt der Auffassung, dass »Geschichte vom Menschen gemacht« wird und
der Einzelne kein »Opfer der Verhältnisse« ist,
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sondern durch Verantwortung über die
»Veränderbarkeit der Verhältnisse« verfügt. Darum sieht Grass Selbsterlebtes im
© 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Kontext von »Zeitströmungen, mit Wendemarken, mit Umbrüchen und Brüchen wie
1945« und »im Verhältnis zu anderen«, um Subjektives »zu brechen, eigenes Erfahren
mit anderem zu mischen, literarische Figuren entstehen zu lassen, die nur ganz selten
direkte Porträts sind«.
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Damit dies begreiflich wird, reduziert, ordnet und verbindet der
Autor historische mit erfundener Wirklichkeit in der metaphorisch verstandenen
Zentralfigur, im detailrealistischen Lokalkolorit des topographisch fixierten Schauplatzes
Danzig, im geschichtlich zuverlässigen Zeitkolorit. »Ich bleibe am Ort, spare Parabeln
aus, habe ein direktes Verhältnis zu Geographie und Zeit«, um »vom Detail her größere
Zusammenhänge zu belegen [. . .]«.
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Die Novelle ist unmittelbarer Teil der
Danziger Trilogie
, in Paris (1956/59)
entstanden, um »aus Distanz zu Deutschland [. . .] auf tausendfünfhundert Seiten in
Prosa das zu schreiben, was mir trotz und nach Auschwitz notwendig war.«
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Der Autor
isoliert den novellistischen Stoff aus dem fehlgeschlagenen Konzept eines zweiten
Romans mit dem Arbeitstitel
Kartoffelschalen
(1959) und einem »Kapitel [. . .] ›Katz
und Maus‹«,
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der dann umgeformt als Roman
Hundejahre
erscheint (1963).
Katz und
Maus
bleibt auf die Kriegszeit begrenzt, behält erzähltechnisch die Reflexion
historischer Ereignisse aus der ironisch-grotesk wirkenden Ich-Perspektive des
schuldbedrängten Kleinbürgers im Faschismus über die ebenso disponierten Kleinbürger
bei. Dieser thematisch-erzähltechnische Zusammenhang der Trilogie bei der Gestaltung
einer sich zerstörenden Weltordnung wird durch zahlreiche Übereinstimmungen von Ort
und Zeit, von Personen, Motiven und Episoden, des Autors authentischer Erinnerung
und seiner Auseinandersetzung mit der verlorenen Heimat, durch die Verbindung von
historischer Realität und phantastischer Weiterung unterstützt.
Katz und Maus
erscheint im Jahr des Berliner Mauerbaus 1961. Die sprichwörtliche
Wendung des Titels, in der literarischen Tradition paarweiser Kurztitel wie Gustav
Freytags
Soll und Haben
(1855) oder Leo Tolstois
Krieg und Frieden
(1869), nennt,
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symbolisch oder allegorisch verkürzt, miteinander verbundene Qualitäten des
Zusammenlebens. So aufs Allgemeine gerichtet, des Lesers Vorwissen von
Tiermetaphorik und redensartlichem Katz-und-Maus-Spiel stimulierend, zielt sein
Interesse auf eine konkrete, auch grundsätzlich gemeinte Handlung von Stärke und
Schwäche, Verfolgen und Verfolgtwerden. Die Umschlaggrafik, für die Erstausgabe vom
Autor gezeichnet, erläutert die Titelaussage. Der massige, schwarz-weiß getigerte,
behäbige Katzenkörper mit den starrenden Augen vor dem grünen Hintergrund
vermittelt Bedrohlichkeit, und das Ritterkreuz signalisiert weltgeschichtliche
Zusammenhänge. Der Gattungsbezug »Eine Novelle« knüpft bewusst an die
Erzähltradition des 19. Jahrhunderts an: eine überschaubare Fabel, entfaltet in linearer,
symmetrischer Handlung episodisch, dramatischen Zuschnitts (Exposition / I, steigende
Handlung / II–VI, Peripetie / VII, fallende Handlung / VIII–XII, Katastrophe / XIII);
eine zentrale, die Welt und ihre Konflikte vertretende Figur; komplementäre Personen
von Held und Ich-Erzähler (Rahmenhandlung/Rollenprosa); ein Leitmotiv (der ›Falke‹,
Heyse; hier Maus/Adamsapfel) und leitmotivisches Dingsymbol (Schraubenzieher und
Varianten/Ritterkreuz); ein Wendepunkt (vgl. A. W. Schlegel / L. Tieck) als
»Unerhörtes« (Kap. VIII; Goethe zu Eckermann am 25. Januar 1827). Man kann jedoch
eine veränderte Thematik beobachten: Statt einer traditionell idealistisch
ausgerichteten Progression des Helden durch Läuterung findet sich bei Grass die
Regression als Entlarvung des kleinbürgerlichen Lebensverständnisses in einer
ideologisch verblendeten Welt.
Mit dem ersten Kapitel legt der Autor Stoff und Thema, Erzählanlass und
Erzählsituation, Handlungsrichtung, den Helden, sein Milieu und weitere Konstituenten
fest. Die Auftaktepisode im »Stadion« und die Erzählerreflexion setzen mit der
sukzessiven Vorstellung des Berichtenden und seines Gegenstandes ein. Einem
gewissen Pilenz, namentlich sich erst nach der Textmitte identifizierend (80)
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, in
© 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Düsseldorf wohnend und »mit mürrischem Gewissen einer mäßig bezahlten
Fürsorgearbeit im Kolpinghaus nachgehend« (109), empfiehlt sein Beichtvater Pater
Alban ein zweites, nunmehr schriftliches Nacherzählen ihn schuldhaft belastender
Zusammenhänge aus seiner Jugendzeit. So wird dieser als Chronist zum Ich-Erzähler,
der aus der Retrospektive einer Rahmenhandlung von 1960 ein Bekenntnis vorlegt, mit
dem das erinnernde Ich über sich als erinnertes berichtet, das während einer
vergangenen Zeit – ». . . und einmal« (6) – mit dem Freund Mahlke Gemeinsames
erlebte und dadurch die erinnerte Orientierungssuche dessen als eigene
Orientierungssuche erkennen lässt. Mit dem vertraulichen Adressieren Mahlkes über
das großgeschriebene Anredepronomen »Du« suggeriert sich der verunsicherte,
unaufrichtige Schreiber Vertrautheit, von der er weiß, dass sie nicht existiert, da er
bekennen muss, weder »Seele« noch Denken (31) Mahlkes zu kennen. Indem der
Autor, »der uns erfand«, seine Figur Pilenz als fiktiven Erzähler und Handelnden zu
beidem Tun »zwingt«, vermag Grass als Urheber die authentische Wirklichkeit des
Historischen und persönlich Verbürgten als ambivalent und fiktional zu brechen und so
zu relativieren, dass der Erzähler mit begrenzter Sicht und seinen Reflexionen immer
dem folgt, »der uns erfand, von berufswegen« (7).
Pilenz’ Schicksal ist direkt mit dem Mahlkes und seiner Anomalie, dem grotesk großen
Adamsapfel, dem »fatalen Knorpel« (9), in »Haßliebe«
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verbunden: »Wir bildeten ein
Dreieck.« (6) Der Angriff auf ihn, metaphorisch gefasst im Bild von Katz und Maus als
Allegorie elementarer Entfremdung wie Suche nach Versöhnung, setzt den
Erzählmechanismus in Gang, weil von nun an – vom schuldhaft hinterhältigen Angriff
und unschuldigen Erleiden aus – das Verhältnis von beiden Außenseitern definiert ist:
Pilenz ist als verräterischer Freund und als Erzähler »aus verdrängter Schuld«
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der
Verfolger Mahlkes, der zentralen Figur des Geschehens.
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